Warum Kalorienzählen nicht funktioniert − und sogar schädlich sein kann

By Sandra Mersch •  Updated: 10/29/24 •  8 min read

Dies ist ein etwas anderer Blogartikel. Dies ist meine persönliche Geschichte. Dies ist mein Weg zu der Frau, die ich heute bin.

Jetzt durfte ich endlich all das essen, was es zu Hause nicht gab

Als ich etwa 10 Jahre alt war, erkrankte mein Vater an einer schweren Hautkrankheit. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen, ausser ihn mit immer stärkeren Medikamenten vollzupumpen.

Bis er zu Dr. Bruker nach Lahnstein kam. Dort wurde mein Vater auf eine rein vegetarische Vollwertkost gesetzt. Nach einem Jahr war er komplett geheilt und wurde auch nie wieder krank.

Für uns war das eine ziemliche Umstellung, da wir bis zu dieser Zeit nicht besonders auf unsere Ernährung geachtet hatten und vor allem viel tierisches Eiweiss, meist nicht von besonders hoher Qualität, gegessen haben.

So gab es von einem Tag auf den anderen nur noch vegetarische Kost für die ganze Familie. Das war Mitte der 80er Jahre, als Vegetarier noch schräg angesehen und als Körnlipicker verschrien wurden.

Auch sonst begann meine Mutter sehr penibel auf unsere Ernährung zu achten: Nutella, Coca Cola, Chips, Fast Food usw. gab es bei uns nicht. Das kannte ich eigentlich nur von den Geburtstagsfeiern meiner Mitschüler.

Nach dem Abitur ging ich nach Brüssel studieren. Das war eine Zeit der Schlemmerei. Ich ass alles, was ich die letzten Jahre nicht essen durfte. Nutella löffelte ich aus dem Glas, in der Mensa gönnte ich mir fast jeden Mittag leckere belgische Pommes. Aber bitte mit Mayo, nicht mit Ketchup.

Image by Racool_studio on Freepik

Ich entdeckte Chicken Nuggets, Big Mac und Tiefkühlpizza. Ich wurde wieder zur Allesesserin, im wahrsten Sinne des Wortes. Einzig Süssgetränke mochte ich nicht und davon liess ich auch weiterhin die Finger.

Nach etwa 2 Jahren hatte ich mir auf diese Weise gute 5 Kilo angefuttert (bei einer Grösse von 160 cm) und ich fühlte mich zusehends unwohl in meiner Haut. Hinzu kam, dass ich recht schüchtern war. Ich ging nicht von mir aus auf andere Menschen zu. Das wurde manchmal auch als Arroganz oder Hochnäsigkeit interpretiert.

Von der grauen Maus zu einer selbstbewussten jungen Frau

Während meine Kolleginnen in engen bauchfreien Tops umherliefen − das war Ende der 90er gross in Mode − trug ich am liebsten XL-Shirts… um meinen Bauch und meinen Po zu kaschieren. Ich versteckte mich auch hinter meinem schulterlangen Bob-Haarschnitt.

Das Blatt wendete sich im 3. Studienjahr. Ich hatte im Jahr zuvor einige Prüfungen vermasselt, so dass ich das Jahr wiederholen musste. Allerdings nur die Fächer, die ich nicht bestanden hatte.

Ich hatte dementsprechend viel Zeit, da ich nur etwa 8 Stunden Unterricht hatte. Ich entschied, dass es so nicht weiter gehen konnte und wollte die Zeit nutzen, um Sport zu machen. Schliesslich hatten ja alle gesagt, ich solle mich einfach mehr bewegen und weniger essen.

Gesagt, getan. Ich schrieb mich ins Fitnessstudio um die Ecke ein, machte zweimal pro Woche ein einstündiges Workout mit einem Mix aus Cardio und Krafttraining und am Wochenende ging ich eine Runde joggen. Zuerst 3 Kilometer, dann 4, dann 5 bis es schliesslich 10 Kilometer wurden.

Ich begann auch weniger zu essen, sprich Kalorien zu zählen, und fing an selbst zu kochen anstatt jeden Tag belgische Pommes, ellenlange Thunfisch-Sandwiches und Tiefkühlpizza in mich reinzustopfen.

Meine Mutter hatte mir zu Weihnachten ein vegetarisches Kochbuch geschenkt und so fing ich an, wieder mehr auf meine Ernährung zu achten.

Und siehe da, nach einem halben Jahr hatte ich mein ursprüngliches Gewicht wieder und ich hatte sogar ein paar Muckis bekommen. Ich fühlte mich grossartig! Ich wurde plötzlich mit Komplimenten überhäuft.

Ende gut, alles gut?!

Die neue Aufmerksamkeit hat mir gefallen. Ich fühlte mich wie neugeboren und liess mir kurzerhand die Haare schneiden. Ich wollte mich nicht mehr verstecken. Ich war unendlich stolz auf mich und meine Figur.

Doch dann kam der Punkt, an dem ich nicht weiter abnahm, sondern plötzlich wieder zunahm, obwohl ich penibel genau auf meine Kalorienzufuhr geachtet habe.

Wenn du schonmal eine Diät gemacht oder Kalorien gezählt hast, dann weisst du, dass irgendwann unweigerlich der Punkt kommt, an dem du nicht weiter abnimmst. Im dümmsten Fall beginnst du sogar wieder zuzunehmen.

Dein Körper gewöhnt sich einfach an die Kalorienreduktion, so dass du mit der Zeit immer weniger Kalorien zu dir nehmen darfst, wenn du noch weiter abnehmen möchtest.

Das war auch bei mir der Fall. Hinzu kam, dass ich mit der Zeit sehr viel Sport getrieben habe und natürlich auch Muskelmasse aufgebaut habe. So begann ich wieder zuzunehmen.

Logisch, denn Muskeln sind nun mal schwerer als Fett. Aber das ignorierte ich damals einfach. Das einzige, was ich sah, war die Zahl auf der Waage und die ging wieder nach oben.

Was tat ich? Ich ass noch weniger und trainierte noch mehr… bis das Ganze schlussendlich in eine handfeste Sport- und Esssucht mündete. Da ich so wenig ass, hatte ich in immer kürzeren Abständen regelrechte Fressorgien. Da habe ich dann locker ein Pfund Brot oder eine grosse Packung Kekse verdrückt.

Am nächsten Tag ass ich dann noch weniger und machte noch mehr Sport. Ich ernährte mich fast nur noch von Salat, Gemüse und Früchten. Kohlenhydrate gab es nur noch am Wochenende nach einer 2-stündigen Joggingrunde. Fett habe ich gemieden wie die Pest.

Ich machte mind. 5x pro Woche Sport, hauptsächlich Indoor Cycling (damals hiess das noch Spinning) und Joggen. Das ging etwa ein Jahr lang so, bis ich eines Abends nach dem Indoor Cycling bei der Tramhaltestelle vor meiner Haustür zusammengeklappt bin.

Mir wurde schwarz vor Augen und ich musste mich vor dem Eingang meines Wohnblocks hinsetzen. Zwei Frauen haben mir ein Glas Wasser geholt − beim gegenüberliegenden McDonalds (was für eine Ironie!).

Das war mein Weckruf! Ich wog nur noch 42 Kilo, die Haare fielen mir aus und meine Periode blieb ganze 9 Monate aus. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviele Schwangerschaftstest ich gemacht habe, denn ich wollte zu dem Zeitpunkt keinesfalls schwanger werden!

Ich hatte mich in einen regelrechten Teufelskreis hinein manövriert, aus dem ich alleine nicht mehr heraus kam. Ich suchte mir Hilfe bei einer Ernährungsberaterin und verstand schnell, was ich meinem Körper antat.

Sobald ich wieder mehr gegessen habe und vor allem auch wieder Kohlenhydrate und Fette in meine Ernährung integriert hatte, hörten die Fressattacken auf. Das dauerte knapp 4 Wochen.

Die Ernährung war das eine, mangelndes Selbstvertrauen das andere. Das ging ich mit Hilfe einer Psychologin an. Und so fand ich langsam einen Weg aus der Sport- und Esssucht aber ich hatte auch immer wieder Rückschläge.

Ich beschloss eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin zu machen. Ich wollte von Grunde auf verstehen, was ich in meinem Körper anrichtete, in der Hoffnung so endlich ein für allemal aus dem Teufelskreis auszubrechen.

Das war Anfang 2014. Ich habe die Lehrinhalte regelrecht aufgesaugt und vieles in die Praxis umgesetzt. Ich verstand die Zusammenhänge und fühlte mich wie ein neuer Mensch.

Und noch viel wichtiger: Ich wollte mein neues Wissen in die Welt hinaustragen. Ich hatte meine Berufung gefunden. 😊 Und so begann eine neue leidenschaftliche Karriere, die mich über verschiedene Etappen zu meiner heutigen Tätigkeit geführt hat.

Ich möchte anderen Frauen ersparen, was ich durchlebt habe. Natürlich ist nicht jede Frau, die Kalorien zählt und/oder sehr viel Sport macht automatisch von einer Essstörung betroffen.

Aber ich sehe in meinem Umfeld viele Frauen, die ein, sagen wir, unnatürliches Verhalten gegenüber Essen und Sport an den Tag legen. Das betrifft nicht nur junge Frauen, sondern auch Frauen um die 50.

Sie sehen, dass ihre bisherigen Strategien gegen unerwünschte Fettpölsterchen nicht mehr funktionieren und was tun viele dann: Sie essen weniger und bewegen sich mehr. Willkommen im Club!

Was ich daraus gelernt habe

  1. Unser Körper ist ein wahres Wunderwerk der Natur aber wir müssen ihm geben, was er braucht um gut zu funktionieren. Tun wir das nicht, fährt er alle nicht lebenswichtigen Körperfunktionen runter, zum Beispiel den Stoffwechsel.
  2. Es bringt nichts einen Nährstoff, zum Beispiel Kohlenhydrate oder Fette zu verteufeln. Unser Körper braucht sowohl Eiweisse als auch Fette und Kohlenhydrate, einfach in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander.
  3. Verbote bringen nichts! Egal wieviel Disziplin du hast, wie stark du mental bist, dein Körper ist stärker, das kannst du mir glauben. Es kommt immer der Moment, in dem du einbrichst, es ist nur eine Frage der Zeit.
  4. Manchmal muss man sich Hilfe von Aussen holen, das ist keine Schande. Manchmal braucht man einfach jemanden an seiner Seite, der einem den Weg zeigt und einen unterstützt, vor allem wenn es mal nicht so gut läuft.
  5. Es gibt immer zwei Seiten einer Erfahrung: eine positive und eine negative. Ich versuche mich, in jeder Situation, stets auf das Positive zu konzentrieren. Wäre ich dieser Erfahrung gerne aus dem Weg gegangen? Natürlich, absolut! Aber so schwer sie auch war, ich wäre heute nicht die Frau, die ich jetzt bin.

Und jetzt interessiert mich deine Meinung. Welche Erfahrungen hast du mit Kalorienzählen gemacht? Ich freue mich, von dir zu lesen.

2 Antworten zu «Warum Kalorienzählen nicht funktioniert − und sogar schädlich sein kann»

  1. Sarah Burek

    Hallo Sandra,
    dein Bericht liest sich in weiten Teilen so, wie ich meine Erfahrungen auch schildern könnte. Mit 17 oder 18, ich weiß es gar nicht mehr genau, habe ich begonnen Kalorien zu zählen und damit sehr erfolgreich, ohne großen Verzicht (jedenfalls in meiner Erinnerung) von weit über 80 kg auf 69 kg zu kommen (bei 1,69 m Größe). Es folgten eine stressige Abiturphase, eine 7,5 Jahre dauernde toxische Beziehung und am Ende standen 115 kg auf der Waage. Durch erneutes Kalorienzählen bin ich mit der Unterstützung meines Ehemannes (damals frisch verliebt) auf 98 kg runter. Es folgten eine Schwangerschaft, eine komplizierte Stillzeit und Gestationsdiabetes. Seit nunmehr vier Jahren hänge ich zwischen 112 und 107 kg fest, trotz ärztlich begleiteter Ernährungsberatung und einer Mitgliedschaft in einem Gesundheitsstudio (die bieten sehr viel an zu Prävention und Reha). Ich kann gefühlt machen, was ich will, es bewegt sich nichts auf der Waage. Daher kann ich deinen Leidensweg sehr gut nachempfinden und finde es sehr schön zu lesen, dass du einen Weg raus aus dem Teufelskreis gefunden hast.

    Liebe Grüße aus der Blogothek
    Sarah

    1. Liebe Sarah,
      Vielen Dank, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Ja, da haben wir wohl Ähnliches durchlebt, obwohl ich nicht mit ganz so viel Kilos kämpfen musste. Ich wünsche dir von Herzen, dass du bald wieder die 100er-Grenze unterschreitest. Mit der Ernährungsberatung und der Mitgliedschaft im Gesundheitsstudio bist du schon auf dem richtigen Weg aber vielleicht fehlt noch ein Puzzleteil. Spontan denke ich an das Thema Stress. Ich werde dazu auch noch Artikel schreiben aber wenn du möchtest, können wir uns mal unverbindlich unterhalten.
      Herzliche Grüsse
      Sandra

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Sandra Mersch

Hi, ich bin Sandra, das Gesicht hinter abnehmen ohne blabla. Als ganzheitliche Ernährungsberaterin und Abnehmcoach möchte ich mit irreführendem Halbwissen aufräumen und Frauen in den Wechseljahren auf ihrer Reise zu ihrem Wunschgewicht unterstützen.